journal_logo

GMS Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS)

1860-9171


Dies ist die deutsche Version des Artikels. Die englische Version finden Sie hier.
Systematischer Rückblick und Perspektiven

Institute der Medizinischen Informatik, Biometrie und Epidemiologie an medizinischen Fakultäten in Deutschland: Ein historischer Rück- und Ausblick am Beispiel Essen

 Andreas Stang 1,2

1 Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie, Universitätsklinikum Essen, Deutschland
2 School of Public Health, Department of Epidemiology, Boston University, Boston, USA

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit versucht anhand aller verfügbaren Archivunterlagen des Instituts, des Dekanats und der Universität Duisburg-Essen die Gründungsgeschichte des Instituts für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (IMIBE) der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen zu skizzieren. Das IMIBE wurde 1974 gegründet. Vergleichbar wie bei der Gründung der Schwester-Institute in Kiel (1964) und in Freiburg (1963) waren Ärzte der Medizinischen Fakultäten die treibende Kraft für die Gründung der Institute. An der Essener Medizinischen Fakultät waren das Prof. Scherer und Doz. Dr. med. Dr. phil. Jansen. Noch 1991 erklärte der Essener Lehrstuhlinhaber, Prof. Schmitt, dass die Epidemiologie als eine „Untermenge der Biomathematik bzw. Biometrie“ anzusehen ist und weder in der Approbationsordnung noch in der Weiterbildungsordnung für Ärzte als eigenständiges Fach genannt wird. Es bleibt für die Fächer Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie an Medizinischen Fakultäten auch zukünftig wichtig, dass die Ärzteschaft erkennt, dass diese Fächer eine Grundlage für das wissenschaftliche Arbeiten in der Medizin darstellen.


Schlüsselwörter

Institutsgründung, Medizinische Informatik, Biometrie, Epidemiologie, Geschichte

Einleitung

Das Gros der Professuren bzw. Institute der drei Fächer „Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie“ ist in Deutschland integraler Bestandteil der 39 staatlichen Medizinischen Fakultäten und der sechs privaten Hochschulen mit Medizinischen Fakultäten bzw. der privaten Medical Schools [1].

Das Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (IMIBE) der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen wurde 1974 gegründet [2] und beging im Jahr 2024 sein 50-jähriges Jubiläum. Das Ziel dieser Arbeit ist es, die Gründungsgeschichte des Instituts darzustellen und die rückblickend erkennbaren Argumente für die Gründung des Essener Instituts herauszuarbeiten, um so eine medizinhistorische Diskussion zu eröffnen. Weiterhin ist es das Ziel dieser Arbeit, aus der historischen Entwicklung des IMIBE einen Ausblick für die weitere Perspektive dieser Institute in Deutschland zu geben.

Es wurden alle verfügbaren Archivunterlagen des IMIBE, des Dekanats der Medizinischen Fakultät sowie des Universitätsarchivs der Universität Duisburg-Essen bezüglich der Geschichte des Instituts gesichtet. Weiterhin wurden Angaben aus der 100-Jahres-Festschrift des Universitätsklinikums entnommen [3]. Für das historische Verständnis der Gründung des IMIBE ist es notwendig, verschiedene – zum Teil parallel laufende – Entwicklungen zu betrachten. Für die Einrichtung des IMIBE war die Existenz der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen eine zwingende Voraussetzung. Tabelle 1 [Tab. 1] präsentiert daher vorab für den interessierten Leser eine kurze Übersicht zu den historischen Meilensteinen der Gründung dieser Fakultät und des Universitätsklinikums Essen.

Tabelle 1: Entstehungsgeschichte der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen und des Universitätsklinikum Essen

Anregungen der Ärzteschaft der Medizinischen Fakultät in Essen

Die Medizinische Fakultät in Essen, die zunächst eine Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (1963–1967) und später der Ruhr-Universität Bochum (1967–1972) war, bestand zur Zeit ihrer Gründung aus zwei Fachbereichen: Fachbereich 7, „Theoretische Medizin“ (oft auch als VII gekennzeichnet) und Fachbereich 8, „Praktische Medizin“ (oft auch als VIII gekennzeichnet). Am 10. Mai 1968 verfasste Prof. Dr. med. Eberhard Scherer, Röntgeninstitut und Strahlenklinik, Städtische Krankenanstalten, Klinikum Essen der Ruhr-Universität Bochum, ein Schreiben an den Dekan der Abteilung VIII am Klinikum Essen der Ruhr-Universität Bochum mit folgendem Wortlaut:

„Spektabilis!

Nachdem ich in der letzten Fakultätssitzung des Wintersemesters die Frage nach der Einrichtung einer Abteilung für Statistik und Dokumentation erneut angeschnitten hatte, erhielt ich von der Fakultät den Auftrag, einen Überblick über den zu erwartenden Anfall von Daten zu beschaffen. Nach den mir von den einzelnen Kliniken und vom Mikrobiologischen Institut zugegangenen Informationen kann ich unter Zugrundelegung ähnlicher Zahlen für die Fächer Pathologie sowie Pharmakologie und Hygiene u. Arbeitsmedizin sagen, daß wir mit etwa 100 000 Einzeldokumentationen für Patienten oder wissenschaftlichen Daten pro Jahr rechnen.

Weiterhin habe ich in Gesprächen mit Fachleuten auf diesem Gebiet, vor allem auch Herrn Prof. Dr. Koller in Mainz, die Überzeugung gewonnen, daß ein Medizinisches Zentrum wie das Klinikum Essen mit zwei großen Abteilungen unter allen Umständen eine eigene Dokumentationsanlage benötigt.

Der Anschluß an einen Speicher etwa in Bochum oder an anderer Stelle ist illusorisch. Hinzu kommt, daß Planung, Einrichtung und Betrieb einer solchen Anlage ohne einen Lehrstuhl für Biostatistik und Dokumentation nicht denkbar sind. Somit ergibt sich als nächste konkrete Aufgabe für die Abteilungen XVII und XVIII, innerhalb des Klinikum Essen den Raumbedarf für diesen Lehrstuhl bereitzustellen.“ [4]

Offensichtlich hatte Scherer in zwei Fakultätssitzungen des Wintersemesters 1967/1968 angeregt, dass eine Abteilung für Statistik und Dokumentation eingerichtet wird. Unter anderem begründete er das mit dem Aufkommen großer Datenmengen. Er erhielt den Auftrag, das zu erwartende Datenvolumen, welches pro Jahr in der Medizinischen Fakultät bzw. dem Universitätsklinikum Essen anfiel, abzuschätzen.

Am 13.9.1968 verfasste Doz. Dr. med. Dr. phil. Gerd Jansen, Arbeitsmedizin, Institut für Hygiene und Arbeitsmedizin der Ruhr-Universität Bochum, Medizinische Fakultät Essen, einen Brief an den Dekan, Herrn Prof. Dr. med. H. J. Schümann, Dekan der Abteilung VII, Essen, u.a. mit folgendem Wortlaut:

„…darf ich feststellen, daß die Verbindungen zwischen der Mathematik und der naturwissenschaftlich orientierten Medizin nicht ausreichen, um die auftretenden medizinischen Probleme optimal zu bearbeiten. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß Mathematiker aus Experimental-Ergebnissen Erkenntnisse herauszuholen vermögen, die mit den Methoden, die einem jungen medizinisch ausgebildeten Arzt zur Verfügung stehen, nicht möglich gewesen wären.“

„…und ich würde vorschlagen, …einen Lehrstuhl für naturwissenschaftliche Mathematik einzurichten.“ [5]

In diesem Schreiben beschreibt Jansen, dass die Hilfe von Mathematikern zur Bearbeitung von medizinischen Problemen sinnvoll ist und dass junge Ärzte methodisch diesbezüglich nicht genügend ausgebildet sind. Er regt daher ebenso wie Scherer die Gründung eines Lehrstuhls an. Diese Anregung von Ärzten der Essener Medizinischen Fakultät kann nicht auf die zu dem Zeitpunkt geltende Approbationsordnung für Ärztinnen und Ärzte („Bestallungsordnung für Ärzte“ [6], Tabelle 2 [Tab. 2]) zurückgeführt werden, weil diese Ordnung die drei Fächer noch nicht enthielt.

Tabelle 2: Entwicklung der Approbationsordnung für Ärzte

Entwicklung der Approbationsordnung für Ärztinnen und Ärzte in West-Deutschland

Die Approbationsordnung für Ärztinnen und Ärzte (abgekürzt: ÄApprO) regelt das Medizinstudium. Die Novellierung der ÄApprO ist Aufgabe von Bund und Ländern und muss vom Bundesrat verabschiedet werden. Somit ist die Novellierung eine politische Aufgabe. Das Bundesministerium für Gesundheit ist hieran zentral beteiligt.

In 1970 wurde das Fachgebiet Biomathematik in die ÄApprO integriert (Tabelle 2 [Tab. 2]) und Medizinstudierende mussten von da an „Übungen zur Biomathematik für Mediziner“ belegen, was eine curriculare Lehre und qualifiziertes Personal notwendig machte. Offensichtlich war man auch politisch zu der Ansicht gekommen, dass Medizinstudierende eine Mindestkenntnis in Biomathematik erlangen sollten. Curriculare Lehre ist gemäß ÄApprO verpflichtend anzubietende Lehre im Medizinstudium. Die Fächer Medizinische Informatik und Epidemiologie fanden in der ÄApprO von 1970 keine Erwähnung. Noch mit Schreiben vom 28.2.1991 teilte Prof. Schmitt, Institutsdirektor des Instituts für Medizinische Informatik und Biomathematik, Universitätsklinikum Essen, dem Dekan des Fachbereiches 14, Herrn Prof. Dr. W. M. Fischer, u.a. mit:

„Der Begriff Epidemiologie ist als eine Untermenge der Biomathematik bzw. Biometrie anzusehen. Weder in der Approbationsordnung noch in der Weiterbildungsordnung für Ärzte ist die Epidemiologie als eigenständiges Fach genannt.“

„Hinzu kommt, daß die realen Forschungsmöglichkeiten auf diesem Gebiet durch die derzeitigen gesetzlichen Regelungen sehr stark eingeschränkt sind.“

„Das Fach und der Begriff ‚Medizinische Informatik‘ hat sich zwischenzeitlich in der Medizin durchgesetzt. Sie sind sowohl in der Approbationsordnung als Unterrichtsgegenstand, in den wissenschaftlichen Gesellschaften, u. a. durch die Vergabe des Zertifikats ‚Medizinische Informatik‘ als auch in der Weiterbildungsordnung für Ärzte (Ärztekammern) durch den Erlaß von Ausbildungsrichtlinien zur Verleihung der Zusatzbezeichnung ‚Medizinische Informatik‘ allgemein anerkannt.“ [7]

Mit der ÄApprO von 2002 wurde der Querschnittsbereich 1 „Epidemiologie, medizinische Biometrie und medizinische Informatik“ eingeführt, so dass von da an alle drei Fächer fest in der ÄApprO verankert wurden.

Zuletzt wurde am 31. März 2017 der „Masterplan Medizinstudium 2020“ durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das Bundesministerium für Gesundheit (BMG), die Kultusministerkonferenz (KMK), die Gesundheitsministerkonferenz (GMK) sowie Fraktionsvertreter des Bundestages verabschiedet. Diese Veröffentlichung macht eine Novelle der ÄApprO notwendig. Zu diesem Zweck hat das Bundesministerium für Gesundheit im November 2020 einen Referentenentwurf vorgelegt, der mittelfristig wohl zu einer Novellierung der ÄApprO führen wird [8].

Gründung des heutigen Instituts für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (IMIBE) am Universitätsklinikum Essen

Im Auszug aus dem Protokoll der gemeinsamen Fakultätssitzung der Fachbereiche VII und VIII (RUB) vom 24.5.1973 findet sich die Verabschiedung einer Berufungsliste zur Besetzung des Lehrstuhls „Biostatistik und Dokumentation“, bei der Prof. H. G. Schmitt, Würzburg, auf Platz 1 stand [9]. Schmitt trat die Professur im Jahr 1974 an und das „Institut für Biostatistik und Dokumentation“ wurde im selben Jahr gegründet [2]. Neben seiner Professur bestand das Institut aus zwei Assistenten, einer Sekretärin und einem Programmierer.

Nach Antritt der Professur beantragte Schmitt mit Schreiben vom 24.10.1974 bei beiden Dekanen der Fachbereiche VII (Theoretische Medizin) und Fachbereich VIII (Praktische Medizin) die Beschaffung einer „Datenübertragungsstation“ zum Anschluss an eine Großrechenanlage für die Fachbereiche VII und VIII einschließlich der Kliniks-Verwaltung bei beiden Dekanen dieser Fachbereiche [2]. Schmitt hat sich offensichtlich sofort um den Aufbau einer einrichtungsweiten EDV-Anlage gekümmert.

Mit Schreiben vom 21.1.1975 beantragte Schmitt, dass das „Institut für Biostatistik und Dokumentation“ in „Institut für Medizinische Informatik und Biomathematik“ mit der Begründung umbenannt wird, dass nicht zu ersehen ist, „daß das genannte Institut im Bereich der Medizin angesiedelt ist“ [10]. Die Medizinische Fakultät der beiden Fachbereiche stimmte in ihrer Sitzung am 13.2.1975 dieser Änderung zu [11].

Mit Schreiben vom 15.5.1979 [12] teilte Schmitt dem Dekan mit, dass es ihm gelungen [sei],

„zunächst eine Bindungsermächtigung von DM 800.000 für das Haushaltsjahr 1980 zur Beschaffung von DV-Anlagen für die Fachbereiche Theoretische und Praktische Medizin im Jahre 1981 zu erhalten“. Dabei gehe das Ministerium für Wissenschaft und Forschung davon aus, „daß diese Gelder vorrangig für den Aufbau eines medizinischen Dokumentationssystems innerhalb des Universitätsklinikum Essen verwendet werden sollen.“ Das Ministerium sei ferner der Ansicht, „daß auch das Krebsregister als Spezialfall einer allgemeinen medizinischen Dokumentation betrachtet werden soll.“ [12]

Das IMIBE hatte die Leitung des Krankenhausinformationssystems des Operativen Zentrums II von 1989 bis 1997. Seit 1997 beschäftigte sich die „Zentrale Einrichtung Informationsverarbeitung“ (ZEI) des Universitätsklinikums mit dem Auf- und Ausbau des klinikumsweiten Kommunikations- und Informationssystems in der Krankenversorgung. Erst im Februar 2016 wurde die ZEI in die Stabsstelle „Zentrale IT“ (ZIT) umbenannt und die Leitung aus dem IMIBE herausgelöst [13].

Mit dem anstehenden Ruhestand von Prof. Dr. H. G. Schmitt beschloss das Rektorat der Universität Gesamthochschule Essen am 17.7.1991 die Ausschreibung einer Professorenstelle für das Fach „Medizinische Informatik und Biomathematik“ der Besoldungsgruppe C4. In dem Schreiben wurde angemerkt:

„Kapazitativ ist zu bemerken, daß die Professorenstelle für das Fach ‚Medizinische Informatik und Biomathematik‘ der Lehreinheit ‚Klinisch-theoretische Medizin‘ zuzuordnen ist. Biomathematik ist Stoffgebiet des Ersten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung und damit für das regelmäßige Lehrangebot des Studiengangs Humanmedizin zwingend erforderlich (Prüfungsfach gemäß § 25 ÄApprO).“ [14]

Mit dem noch vor seinem Ruhestand unerwarteten Tod von Prof. Schmitt leitete PD Dr. R.-J. Fischer vorübergehend das Institut. Mit Schreiben von 17.12.1993 [15] des Dekans Prof. Dr. W. M. Fischer an das Ministerium für Wissenschaft und Forschung NRW wurde die Umbenennung des Instituts in „Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie“ mit folgenden Begründungen beantragt:

„Im Zuge der wissenschaftlichen Entwicklung der angewandten Statistik in der Medizin werden das frühere Fach Biomathematik und die Epidemiologie mit ihren zum großen Teil überlappenden Aufgabengebieten heute besser abgegrenzt und dadurch in die speziellere Biometrie und in die Epidemiologie eingeteilt.“

„Dementsprechend hat sich die ‚Deutsche Gesellschaft für Medizinische Dokumentation, Informatik und Statistik e.V.‘ 1991 ein neues Statut gegeben und in ‚Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V.‘ umbenannt. […] Die gemeinsame Fachzeitschrift trägt seit 1993 den Titel ‚Informatik, Biometrie und Epidemiologie in Medizin und Biologie‘.“ [15]

Im Januar 1994 stimmte der Senat der Universität Gesamthochschule Essen der Umbenennung des Instituts in „Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie“ zu [16]. Der berufene Prof. Dr. rer. nat. Karl-Heinz Jöckel war Direktor des Instituts von 1994 bis 2019. Im Januar 2020 trat Prof. Dr. med. Andreas Stang, MPH, seine Nachfolge an.

Ausblick

Die zunehmende Bedeutung der Biomathematik für das wissenschaftliche Arbeiten in der Medizin aus Sicht der Essener Ärzteschaft und die Einsicht, dass es im Umgang mit elektronischen Daten im Universitätsklinikum Essen einer besonderen Expertise bedarf, sind nachvollziehbare Erklärungen für die Gründung des sich heutzutage Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie nennenden Instituts an der Medizinischen Fakultät im Jahre 1974. Die Etablierung dieser Fächer in Deutschland war und ist stark mit Entwicklungen in den Medizinischen Fakultäten bzw. der ÄApprO verbunden.

Der im Jahr 1957 gegründete Wissenschaftsrat, eine gemeinsame Einrichtung von Bund und Ländern, erarbeitete eine Empfehlung zum Ausbau der wissenschaftlichen Einrichtungen, die 1960 veröffentlicht wurde [17]. Unter anderem wirkte hier der bekannte Internist Prof. Paul Martini, Universitätsklinikum Bonn, nach dem der gleichnamige Preis zur Würdigung der Entwicklung der Methodik klinisch-evaluativer Forschung zur Beurteilung therapeutischer Maßnahmen der GMDS benannt wird [18], mit [19]. Unter anderem empfahl der Wissenschaftsrat:

„Die Medizinische Statistik einschließlich zugehöriger Dokumentation ist für die medizinische Forschung unentbehrlich, bisher jedoch in den medizinischen Fakultäten fast nicht vertreten. Jede Fakultät sollte daher einen Lehrstuhl erhalten, dessen Hauptaufgabe in der Unterstützung der Kliniken liegt; er könnte aber auch für die Medizinische Statistik in den theoretischen Fächern zuständig sein. Da die Nachwuchslage unbefriedigend ist, können Lehrstühle für Medizinische Statistik zunächst an nur wenigen Hochschulen eingerichtet werden (Schwerpunktbildung). Einige theoretische Institute sollten Planstellen für wissenschaftliches Personal erhalten, das sich, betreut durch den Lehrstuhlinhaber, der Medizinischen Statistik annehmen kann.“ ([17], S. 115)

Im Kapitel „Struktur der Universitätskliniken“ der Empfehlungen findet sich:

„Die aufgezeigten Mängel führen weiter dazu, daß neue Gebiete oder Methoden, die in anderen Staaten mit großem Nachdruck bearbeitet werden, vernachlässigt sind. So wird die deutsche medizinische Forschung beispielsweise durch die völlig unzulängliche und vielfach ganz fehlende Pflege der medizinischen Statistik und der dazu gehörenden Dokumentation erheblich beeinträchtigt.“ ([17], S. 423)

Interessanterweise spielten diese Empfehlungen bei der Gründung der Institute in Kiel (IMIS, gegründet 1964) [20], Freiburg (IMBI, gegründet 1963) [21] und Essen, für die uns die Gründungsgeschichten vorliegen, keine erkennbare Rolle. Sogar „riefen die Empfehlungen in der Freiburger Medizinischen Fakultät zunächst große Empörung hervor; sah man doch die Autonomie und die Einheit der Fakultät durch die Forderung nach einer Vermehrung der Lehrstühle gemäß einer vom Wissenschaftsrat vorgegebenen „Mindestausstattung“ als äußerst gefährdet an“ [21]. Hingegen spielten in diesen drei Medizinischen Fakultäten Ärzte im Aufbau der Institute eine entscheidende Rolle (Kiel: Prof. Albin Proppe; Freiburg: Prof. Richard Haas und Prof. Walter Keller; Essen: Prof. Eberhard Scherer). Der Hygieniker Prof. Haas und der Pädiater Prof. Walter, beide Freiburg, verfassten bereits vor den Empfehlungen des Wissenschaftsrats in 1960 ein Memorandum zur Errichtung eines Lehrstuhles für Medizinische Statistik und Dokumentation an der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg [22]. Wir konnten lediglich beim Mainzer Institut (gegründet als Institut für Medizinische Statistik und Dokumentation, IMSD, im Jahre 1963, später umbenannt in Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik, IMBEI) explizit finden, dass die dortige Institutsgründung auf die Empfehlung des Wissenschaftsrats von 1960 zurückging.

Es sind im Wesentlichen also die Wertschätzung dieser Fächer durch die Ärzteschaft (zumindest in Kiel, Freiburg und Essen) und die politische Willensbildung in Deutschland (Novellierung der ÄApprO), die es ermöglichten, dass nicht nur an der Essener Medizinischen Fakultät, sondern auch an diversen anderen Medizinischen Fakultäten in Deutschland Institute oder Professuren für diese Fächer eingerichtet wurden. Aufgrund dieses „deutschen Weges“ des akademischen Aufbaus dieser Fächer liegt es nahe, die deutschen historischen Besonderheiten zu analysieren und einen Ausblick für die Zukunft dieser Fächer an Medizinischen Fakultäten abzuleiten, solange das Gros der Professuren und Institute dieser Fächer in den Medizinischen Fakultäten integriert bleibt und nicht eigene Fakultäten für diese Fächer geschaffen werden.

Es spricht einiges dafür, dass a) die anhaltende Wertschätzung der drei Fächer bei der Ärzteschaft und b) die aktive politische Beratung der Entscheidungsgremien bzgl. der ÄApprO und der Gremien des Wissenschaftsrats bedeutsam sind. Für die Ärzteschaft ist es aufgrund der diversen Subspezialisierungen und Neuentwicklungen mit zum Teil unscharfen, oft auch englischen Fächer- oder Gebietsbezeichnungen (Machine Learning, Artificial Intelligence, Big Data, (Medical) Data Science, Bioinformatics, Statistical Computing, Computer Science) zunehmend schwer zu verstehen, welchen Stellenwert die curricularen Fächer Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie im Kontext dieser Begriffe und im Kontext des Medizinstudiums haben. Aus diesem Grunde ist es gerade in Zeiten von modernen Verfahren des maschinellen Lernens bzw. der statistischen Modellierung wichtig, dass Institute bzw. Professuren dieser curricularen Fächer an Medizinischen Fakultäten enge Forschungs- und Lehrkooperationen mit den übrigen Instituten und den Kliniken von Medizinischen Fakultäten pflegen, ohne in eine ausschließliche Service- bzw. Dienstleister-Funktion zu geraten. Es muss für die Ärzteschaft ersichtlich bleiben, dass die fachliche Expertise in Medizinischer Informatik, Biometrie und Epidemiologie eine wesentliche Grundlage für das wissenschaftliche Arbeiten in der Medizin darstellt.

Die Fachvertreter und ihre Fachgesellschaften „Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie, gmds“ (gegründet 1955 unter dem Namen „Gesellschaft für Dokumentation“, DGD, in 1966 umbenannt in „Deutsche Gesellschaft für Medizinische Dokumentation und Statistik“, GMDS, aktueller Name seit 1992) (https://www.gmds.de/), „Deutsche Region der Internationalen Biometrischen Gesellschaft, IBS-DR“ (gegründet 1954) (https://www.biometrische-gesellschaft.de/) und „Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie, DGEpi“ (gegründet 2005) (https://www.dgepi.de/) behalten den wichtigen Auftrag, Einfluss bei der politischen Beratung im Kontext von Novellen der ÄApprO und Stellungnahmen des Wissenschaftsrats zu nehmen. Für die anstehende Novelle der ÄApprO, die bis heute noch nicht verabschiedet ist, war in anfänglichen Entwürfen nicht gewährleistet, dass alle drei curricularen Fächer weiterhin präsent sind [23]. Erst nach Intervention durch die Fachgesellschaften konnte erreicht werden, dass alle drei curricularen Fächer im aktuellen Referentenentwurf der ÄApprO enthalten geblieben sind.

Unklar ist, wie bedeutsam die Novellierung der ÄApprO im Jahre 1970 mit der Einführung des Fachs Biomathematik für die Gründung von Schwesterinstituten an anderen Medizinischen Fakultäten war. Ebenso ist unklar, an wie vielen Medizinischen Fakultäten das Gutachten des Wissenschaftsrats von 1960 einen Einfluss auf die Gründung der Institute hatte. Eine systematische Aufarbeitung von Archiven der Medizinischen Fakultäten zu den Gründungsgeschichten der Institute bzw. Professuren könnte hierzu wichtige Aufschlüsse liefern. Es ist zu vermuten, dass sich mit Hilfe des Gutachtens des Wissenschaftsrats von 1960 die zuständigen Landesministerien leichter davon überzeugen ließen, Stellen und eine finanzielle Ausstattung der Lehrstühle zu bewilligen.

Die Beschäftigung mit der Gründungsgeschichte der Institute bzw. Professuren der Fächer Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie an den Medizinischen Fakultäten in Deutschland vermittelt etwas über die Herkunft, die Veränderbarkeit und Entwicklungen der drei Fachgebiete und führt somit zu einem besseren Verständnis der Gegenwart; sie kann auch für zukünftige Entwicklungen sensibilisieren.

Anmerkungen

ORCID des Autors

Andreas Stang: 0000-0001-6363-9061

Danksagung

Ich bedanke mich für die Bereitstellung von Archivunterlagen zur Gründung des Instituts beim Dekanat der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen und bei Herrn Nils Ingenfeld, Universitätsarchiv, Universität Duisburg-Essen. Weiterhin bedanke ich mich für wertvolle Anmerkungen zum Manuskript bei Herrn Dr. Fabian Standl, München, Herrn Prof. Dr. Jürgen Stausberg, Essen und Herrn Prof. Martin Schumacher, Freiburg. Schließlich bedanke ich mich bei einem anonymen Gutachter, der viele wertvolle Verbesserungsvorschläge gemacht hat.

Interessenkonflikte

Der Autor erklärt, dass er keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel hat.


Literatur

[1] Medizinischer Fakultätentag [Internet]. [accessed 2025 Apr 28]. Available from: https://medizinische-fakultaeten.de/
[2] Schreiben von Herrn Prof. Dr. H. G. Schmitt an die Dekane der Fachbereiche 7 und 8, Herrn Prof. Dr. G. Linzenmeier und Herrn Prof. Dr. H.-J. Lehmann, datiert 24.10.1974.
[3] Vorstand des Universitätsklinikum Essen der Universität Duisburg-Essen, Schmid KW, Kampschulte R, Brittinger G, Eigler G, Hrsg. Tradition und Innovation. 100 Jahre: Von den Städtischen Krankenanstalten zum Universitätsklinikum Essen. 1909-2009. 2. Aufl. Joh. Van Acken Verlag; 2010.
[4] Schreiben von Prof. Dr. Eberhard Scherer, Röntgeninstitut und Strahlenklinik, Städtische Krankenanstalten, Klinikum Essen der Ruhr-Universität Bochum an den Dekan der Abt. XVIII am Klinikum Essen der Ruhr-Universität Bochum, datiert 10.5.1968.
[5] Schreiben von Herrn Doz. Dr. med. Dr. phil. Gerd Jansen, Arbeitsmedizin, Institut für Hygiene und Arbeitsmedizin der Ruhr-Universität Bochum an den Dekan Herrn Prof. Dr. med. H.J. Schümann, Dekan der Abteilung VII, Hufelandstr. 55, 43 Essen, datiert 13.9.1968.
[6] Bestallungsordnung für Ärzte vom 15.09.1953. Bundesgesetzblatt Jahrgang 1953 Teil I Nr. 60, ausgegeben am 17.09.1953, Seite 1334. Available from: https://dejure.org/BGBl/1953/BGBl._I_S._1334
[7] Schreiben von Prof. Dr. med. H. G. Schmitt, Institut für Med. Informatik und Biomathematik, Universitätsklinikum Essen der Gesamthochschule Essen an den Dekan des Fachbereiches 14, Herrn Prof. Dr. W. Fischer, im Hause, datiert 28.2.1991.
[8] Medizinischer Fakultätentag. Approbationsordnung für Ärzte und Ärztinnen. [accessed 2025 Apr 28]. Available from: https://medizinische-fakultaeten.de/themen/studium/approbationsordnung-fuer-aerzte/
[9] Auszug aus dem Protokoll der gemeinsamen Fakultätssitzung der Fachbereiche 7 und 8 (RUB). Punkt 8 der Tagesordnung: Bericht der Kommission zur Besetzung des Lehrstuhls „Biostatistik und Dokumentation“, datiert 24.5.1973.
[10] Schreiben von Herrn Prof. Dr. H. G. Schmitt, Institut für Biostatistik und Dokumentation, Hohlweg 35, 4399 Essen, an die Medizinische Fakultät – Fachbereich Theoretische Medizin – Hufelandstr. 55, 4300 Essen, datiert 21.1.1975.
[11] Protokoll der gemeinsamen Fakultätssitzung der Fachbereiche Theoretische und Praktische Medizin (7+8) des Universitätsklinikums der Gesamthochschule Essen, 43 Essen 1, Hufelandstr. 55, am 13.2.1975.
[12] Schreiben von Prof. Dr. med. H. G. Schmitt, Institut für Med. Informatik und Biomathematik, Universitätsklinikum Essen der Gesamthochschule Essen an den Dekan des Fachbereiches Theoretische Medizin, Herrn Prof. Dr. Wiemer, Institut für Physiologie, datiert 15.5.1979.
[13] ZIT mit neuer Struktur. Mitarbeiter-Newsletter des Universitätsklinikum Essen. Ausgabe 4, 29.1.2016.
[14] Schreiben von Herrn Majchrzak-Sperling, Universität GH Essen, Dezernat 2. 1. 2 an den Vorsitzenden der K III, Herrn Prof. Dr. W. Horn, im Hause bezüglich der Ausschreibung einer Professorenstelle auf Lebzeit (Besoldungsgruppe C 4 BBesO) für das Fach „Medizinische Informatik und Biomathematik“ im Fachbereich Medizin, datiert 17.7.1991.
[15] Schreiben des Dekans Prof. Dr. W. M. Fischer, Dekan der Medizinischen Fakultät, Universität Gesamthochschule Essen, an das Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, datiert 17.12.1993.
[16] Schreiben des Prorektors für Personal und Finanzen (i.A. Peter J. Vorpagel), Gesamthochschule Essen, an den Vorsitzenden des Senats der Gesamthochschule Essen, z.Hd. Herrn R. Burkowski, nachrichtlich u.a. an den Dekan des Fachbereich 14 und den Verwaltungsdirektor des Klinikums, datiert 21.1.1994.
[17] Wissenschaftsrat. Empfehlungen des Wissenschaftsrats zum Aufbau der wissenschaftlichen Einrichtungen. Teil I: Wissenschaftliche Hochschulen. Tübingen: Mohl (Paul Siebeck); 1960.
[18] Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS). Preise und Ehrungen. [accessed 2024 Sep 30]. Available from: https://www.gmds.de/preise-ehrungen/
[19] Weiß C. Entwicklung der Medizinischen Statistik in Deutschland – der lange Weg dahin. GMS Med Inform Biom Epidemiol. 2005;1(2):Doc12. Available from: https://www.egms.de/de/journals/mibe/2005-1/mibe000012.shtml
[20] Hedderich J, Konrad S, Krawczak M. 50 Jahre IMIS – Institut für Medizinische Informatik und Statistik im Klinikum der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Institut für Medizinische Informatik und Statistik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; [accessed 2024 Sep 30]. Available from: https://www.uni-kiel.de/medinfo/institut/geschichte/
[21] Schumacher M. Wie die Medizinische Statistik nach Freiburg kam: eine historische Perspektive. GMS Med Inform Biom Epidemiol. 2005;1(2):Doc13. Available from: https://www.egms.de/de/journals/mibe/2005-1/mibe000013.shtml
[22] Haas R, Keller W. Memorandum zur Errichtung eines Lehrstuhles für Medizinische Statistik und Dokumentation. Akte Medizinische Statistik, Universitätsarchiv. Freiburg; 1959.
[23] Scherag A. Persönliche Kommunikation. Juli 2024.
[24] Approbationsordnung für Ärzte vom 28.10.1970. Bundesgesetzblatt Jahrgang 1970 Teil I Nr. 98, ausgegeben am 03.11.1970, Seite 1458. Available from: https://dejure.org/BGBl/1970/BGBl._I_S._1458
[25] Approbationsordnung für Ärzte vom 27. Juni 2002 (BGBl. I S. 2405), die zuletzt durch Artikel 2 der Verordnung vom 7. Juni 2023 (BGBl. 2023 I Nr. 148) geändert worden ist. Available from: https://www.gesetze-im-internet.de/_appro_2002/BJNR240500002.html