Übergabequalität bei papierbasierter vs. elektronischer Pflegedokumentation: Eine quantitative Prä-Post-Studie
Sophia Schießer 1Daniel Flemming 2
Bernd Reuschenbach 2
1 Helios Amper-Klinikum Dachau, Dachau, Deutschland
2 Katholische Stiftungshochschule München, München, Deutschland
Zusammenfassung
Um der Vielzahl an Herausforderungen des Gesundheitswesens im 21. Jahrhundert zu begegnen, greifen immer mehr Krankenhäuser auf digitale Dokumentationssysteme zurück. Daher gewinnt die elektronische Pflegedokumentation innerhalb der Übergabe von Patienteninformationen zunehmend an Bedeutung. In der Studie wurde die Bewertung der Übergabequalität vor und nach Implementierung der elektronischen Pflegedokumentation in der Pflege im Helios Klinikum München West quantitativ analysiert. Die Analyse ergab, dass nach der Implementierung keine statistisch signifikante Verbesserung der Übergabequalität festgestellt wurde. Mögliche Gründe dafür könnten methodische Einschränkungen und digitalisierungsimmanente Gründe sein.
Schlüsselwörter
Patientenübergabe, Dokumentation, Pflegeinformatik, digitale Technologie, Datenanalyse, Deutschland
Einleitung
Angesichts der wachsenden Herausforderungen des Gesundheitswesens im 21. Jahrhundert, greifen immer mehr Krankenhäuser auf digitale Dokumentationssysteme zurück [1], [2]. Das komplexe und zugleich auch fehleranfällige Geschehen bei Dienstübergaben fungiert als wesentliche Informationsschnittstelle zwischen den am Versorgungsprozess beteiligten Personen [3], [4]. Während zahlreiche Studien die Auswirkungen elektronischer Patientenakten auf verschiedene Pflegeprozesse untersuchen, fehlt spezifische Evidenz zur Frage, inwieweit die Einführung elektronischer Pflegedokumentationen die Qualität der Dienstübergaben beeinflusst [5]. Diese Studie adressiert diese Forschungslücke und untersucht die Auswirkungen der Implementierung eines digitalen Dokumentationssystems auf die Übergabequalität im Helios Klinikum München West.
Hintergrund und Zielsetzung
Bedeutung der elektronischen Pflegedokumentation und Übergabeprozesse
Im Oktober 2020 trat das Krankenhauszukunftsgesetz in Kraft. Demnach werden seit Anfang 2021 bundesweit Projekte zur Digitalisierung in Krankenhäusern in den Handlungsfeldern „digitale Infrastruktur“, „Telemedizin, Sensorik, Robotik“, „Digitalisierung medizinischer Leistungsstellen“ und „Vernetzung und Interoperabilität“ mit insgesamt 4,3 Milliarden Euro gefördert [6]. Diese Förderung soll dazu beitragen, die Digitalisierung der deutschen Krankenhäuser voranzutreiben. Langfristig gesehen soll durch die Stärkung der Digitalisierung eine qualitativ hochwertige, sichere, flächendeckende, sektorenübergreifende und effiziente Versorgung erreicht werden [6].
Zu den konkreten Fördertatbeständen gehören unter anderem die Einrichtung einer durchgehenden, strukturierten elektronischen Dokumentation von Pflege- und Behandlungsleistungen sowie die Einrichtung von Systemen, die eine automatisierte und sprachbasierte Dokumentation von Pflege- und Behandlungsleistungen unterstützen [6]. Da die Pflege als größte Berufsgruppe im Krankenhaus ein zentraler Bestandteil aller Krankenhausprozesse ist, wird die Erhöhung der Verfügbarkeit der Pflege- und Behandlungsdokumentation zur Entlastung des Pflegepersonals bei der Pflegeplanung, Pflegedokumentation und Entscheidungsunterstützung angestrebt. Zudem sollen Kommunikations- und Abstimmungsprozesse zwischen den am Versorgungsprozess beteiligten Akteuren vereinfacht und zugleich sicherer gestaltet werden [6], [7], [8], [9], [10]. Einen wichtigen Beitrag zur Gewährleistung einer sicheren Patientenversorgung im Sinne der Versorgungskontinuität leistet die Übergabe als pflegerische Informationsweitergabe zwischen Dienstschichten [11]. Die Arbeit von O’Connell et al. [3] verweist auf heterogene Einschätzungen der Pflegenden zur Wirksamkeit des Übergabeprozesses: Einige Pflegende gaben an, dass sie ausreichend viele Patienteninformationen erhalten. Andere Pflegende gaben an, dass die Subjektivität und Ungenauigkeit der Informationen, die Wiederholung von Informationen, die Übergabedauer sowie die Nennung von irrelevanten Informationen verbesserungswürdig sind [3].
Bei der Transformation des Übergabeprozesses durch die Implementierung digitaler Lösungen sollten stets die Auswirkungen auf den Prozess und die Qualität der Übergabe evaluiert sowie ein umfassendes Informationsmanagement-Konzept berücksichtigt werden [12].
Zielsetzung
Vor diesem Hintergrund bestand das Ziel dieser Studie darin, zu evaluieren, ob sich die Übergabequalität zwischen Dienstschichten in der Pflege nach der Implementierung der elektronischen Pflegedokumentation im Helios Klinikum München West verbessert hat.
Implementierung der elektronischen Pflegedokumentation
Die Einführung der elektronischen Pflegedokumentation im Helios Klinikum München West erfolgte in der Zeit vom 19.10.2021 bis zum 30.11.2021. Die Implementierung umfasste die Integration von Applikationen zur elektronischen Pflegeprozessdokumentation in der akutstationären Versorgung von Erwachsen (epaAC®) sowie zur Leistungserfassung in der Pflege (LEP®) in das Krankenhausinformationssystem i.s.h.med. Zur mobilen Dateneingabe und -bearbeitung wurden mobile Visitenwagen eingeführt. Zur Intervention gehörte keine komplette Digitalisierung aller papierbasierten Dokumente im stationären Setting.
Vor der Einführung der elektronischen Pflegedokumentation (Stand Juli 2021) fand die Übergabe typischerweise mündlich zwischen Pflegenden mit Hilfe von individuell, handgeschriebenen Übergabezetteln statt. In der Regel trafen sich die Pflegekräfte am Ende einer Schicht an einem zentralen Ort auf der Station, um Informationen über den aktuellen Zustand der Patienten auszutauschen. Mit der Einführung der elektronischen Pflegedokumentation (Stand Februar 2022) hat sich der Übergabeprozess dahingehend verändert, dass die Übergabe weiterhin mündlich erfolgt, jedoch durch den direkten Zugriff auf die digitale Pflegedokumentation epaAC® und LEP® unterstützt wird. Während der Übergabe können die relevanten, digital erfassten Patienteninformationen strukturiert und übersichtlich im Krankenhausinformationssystem i.s.h.med am Visitenwagen aufgerufen werden.
Methoden
Design
In einem Prä-Post-Design wurden quantitative Daten zur Bewertung der Übergabequalität vor und nach Implementierung der elektronischen Pflegedokumentation im Helios Klinikum München West erhoben. Die schriftliche Paper-Pencil-Befragung fand vor und nach der Einführung der elektronischen Pflegedokumentation, im Juli 2021 (t0) und – etwa drei Monate nach Implementierung – im Februar 2022 (t1), im Helios Klinikum München West statt.
Datenerhebung
Zur Datenerhebung wurde die unveröffentlichte, deutsche Übersetzung der Handover Evaluation Scale verwendet [13]. Die Übersetzung erfolgte gemäß den WHO-Richtlinien „Process of translation and adaptation of instruments“ im Rahmen einer Vorwärtsübersetzung, Rückübersetzung durch native Speaker sowie Konsensus-Konferenz zur semantischen Adaptation in Zusammenarbeit mit der Originalautorin O’Connell [13]. Diese Vorgehensweise lässt sich auch in den ISPOR „Principles of Good Practice for the Translation and Cultural Adaptation Process for Patient-Reported Outcomes (PRO) Measures” finden [14]. Im Zuge dessen wurde die Handover Evaluation Scale inhaltlich und formal nicht verändert (siehe Tabelle 1) [13]. Aufgrund der Tatsache, dass die Übergabe von Patienteninformationen in dem Krankenhaus üblicherweise nicht am Patientenbett stattfindet, wurde in Analogie zu O’Connell et al. auf die optionale vierte Subskala, die die Einbeziehung der Patienten thematisiert, verzichtet [15]. Die Bewertung der Übergabequalität aller Fragen der Tabelle 1 [Tab. 1] erfolgte anhand einer siebenstufigen Likert-Skala (von 1 = „Stimme überhaupt nicht zu“ bis 7 = „Stimme voll und ganz zu“). In der Befragung zum Zeitpunkt t1 wurden die Frage „Hat sich aus Ihrer Sicht die Übergabequalität bei der elektronischen Dokumentation im Vergleich zur papierbasierten Dokumentation verändert?“ mit den Antwortmöglichkeiten „Ja“, „Nein“ und „Weiß nicht“ aufgenommen. Zusätzlich wurde die Frage „Wenn ja, inwiefern hat sich aus Ihrer Sicht die Übergabequalität bei der elektronischen Dokumentation verändert?“ ergänzt. Die Antwortmöglichkeiten reichten anhand einer fünfstufigen Likert-Skala von „Viel schlechter“ bis „Viel besser“.
Tabelle 1: Übersetzung der Handover Evaluation Scale, übernommen aus [13] und [15]
Ferner wurden demografische Daten (Berufsgruppe, Qualifikation, Beschäftigungsdauer, Beschäftigungsumfang) und Angaben zum derzeitigen Übergabeprozess (Patientenanzahl, Übergabedauer, Übergabeort, Übergabenhäufigkeit) erhoben.
Im Vorfeld der Datenerhebung wurde ein positives Ethikvotum sowie die Zustimmung vom Betriebsrat, vom Datenschutzbeauftragten und der Pflegedirektion des Krankenhauses eingeholt. Im Anschluss fanden Pretests mit neun Pflegenden von vier Stationen sowie Expertengespräche statt. Nachdem die Fragen „Hat sich aus Ihrer Sicht die Übergabequalität bei der elektronischen Dokumentation im Vergleich zur papierbasierten Dokumentation verändert?“ und „Wenn ja, inwiefern hat sich aus Ihrer Sicht die Übergabequalität bei der elektronischen Dokumentation verändert?“ im Erhebungsinstrument zum Zeitpunkt t1 ergänzt wurden, wurde kein weiterer Anpassungsbedarf kommuniziert.
Es wurden ausschließlich Pflegende, die auf einer Normalstation im Helios Klinikum München West tätig waren und eine abgeschlossene Berufsausbildung in der Pflege hatten, eingeschlossen. Aus genehmigungsrelevanten und forschungsökonomischen Gründen wurde eine unverbundene Stichprobe (Between-Subject-Design) umgesetzt. Dies bedeutet, dass zu beiden Erhebungszeitpunkten unterschiedliche Teilnehmende befragt wurden und die Teilnehmenden der ersten Erhebung nicht zwangsläufig auch an der zweiten Erhebung teilgenommen haben. Die Rekrutierung der Studienteilnehmenden erfolgte über die schriftliche Information der Stationsleitungen sowie die Verteilung der Informationsblätter und Fragebögen. Insgesamt wurden 260 Informationsblätter und Fragebögen auf 13 Stationen verteilt. Die Teilnahme an der Befragung war freiwillig, anonym und zu beiden Erhebungszeitpunkten für jeweils drei Wochen möglich. Die Einwilligung zur Teilnahme gaben die Pflegenden mit dem Einwurf des Fragebogens in die verschlossenen Rückgabeboxen im Stützpunkt jeder Station ab. Für die Teilnahme an der Forschung wurde keine Aufwandsentschädigung bereitgestellt.
Datenanalyse
Die Datenauswertung erfolgte mit IBM SPSS Statistics, Version 28.0 und JASP, Version 0.17.1.0. Das Alpha-Niveau wurde für die statistischen Analysen auf α=.05 (zweiseitige Signifikanz) festgelegt. Neben der deskriptiven Auswertung der sozialen Variablen wurden die relevanten Vorher-Nachher-Vergleiche inferenzstatistisch mittels Chi-Quadrat-Test, Mann-Whitney-U-Test und T-Test für unabhängige Stichproben durchgeführt. Zur Auswertung auf Summenwert- und Subskalenebene wurden die negativ gepolten Items F14, F15 und F16 der deutschen Fassung der Handover Evaluation Scale rekodiert.
Ergebnisse
Soziodemografische und übergabespezifische Daten
Die gesamte Stichprobengröße beläuft sich auf n=176. Zum Zeitpunkt t0 betrug die bereinigte Rücklaufquote 30,8% (n=80), zum Zeitpunkt t1 lag sie bei 36,9% (n=96). Da die Rücklaufquoten zu den beiden Zeitpunkten auf unabhängigen Stichproben beruhen, ist die Anwendung eines T-Tests für unabhängige Stichproben gerechtfertigt. Aus den Ergebnissen der soziodemografischen und übergabespezifischen Variablen geht hervor, dass keine statisch signifikanten Unterschiede (p>.05) zwischen den Zeitpunkten t0 und t1 vorliegen (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]).
Tabelle 2: Ergebnisse der soziodemografischen und übergabespezifischen Variablen (eigene Darstellung)
Veränderung der Übergabequalität zwischen den Zeitpunkten t0 und t1
Basierend auf den drei Subskalen der deutschen Übersetzung der Handover Evaluation werden Vergleiche zwischen den Zeitpunkten t0 und t1 ermöglicht (siehe Tabelle 3 [Tab. 3], Abbildung 1 [Abb. 1], Abbildung 2 [Abb. 2] und Abbildung 3 [Abb. 3]).
Tabelle 3: Ergebnisse zur Bewertung der Übergabequalität (eigene Darstellung)
Abbildung 1: Bewertung der Übergabequalität. Box-Whiskers-Plot der Subskala 1 (Qualität der Informationen) der Handover Evaluation Scale. Eigene Darstellung
Abbildung 2: Bewertung der Übergabequalität. Box-Whiskers-Plot der Subskala 2 (Interaktion und Unterstützung) der Handover Evaluation Scale. Eigene Darstellung
Abbildung 3: Bewertung der Übergabequalität. Box-Whiskers-Plot der Subskala 3 (Effizienz) der Handover Evaluation Scale. Eigene Darstellung
Die Analyse der einzelnen Subskalen zeigt keine statistisch signifikanten Testergebnisse (Subskala 1 p=.45, Subskala 2 p=.51, Subskala 3 p=.21) Eine leichte Tendenz zur Verbesserung ist bei Subskala 1 (Qualität der Informationen), Subskala 2 (Interaktion und Unterstützung) sowie Subskala 3 (Effizienz) erkennbar.
Dementgegen steht das deskriptive Ergebnis des Items F25 (Frage 25 – Hat sich aus Ihrer Sicht die Übergabequalität bei der elektronischen Dokumentation im Vergleich zur papierbasierten Dokumentation verändert?) zum Zeitpunkt t1. Eine Veränderung der Übergabequalität nach Implementierung der elektronischen Dokumentation stellten 54,7% der befragten Personen zum Zeitpunkt t1 (n=52) fest. Im Gegensatz dazu gaben 25,3% der Befragten (n=24) an, keine Veränderung festzustellen. Die Übergabequalität nach Implementierung der elektronischen Dokumentation wird von den befragten Personen, die eine Veränderung feststellten von 11,1% viel schlechter (n=6), 31,5% schlechter (n=17), 22,2% ungefähr gleich (n=12), 33,3% besser (n=18) und 1,9% (n=1) viel besser bewertet.
Diskussion
Interpretation und Diskussion
Die vorliegende Studie zeigt, dass keine statistisch signifikante Verbesserung der Übergabequalität nach Implementierung der elektronischen Pflegedokumentation festgestellt werden konnte. Während O’Connell et al. [3] zu einer positiveren Einschätzung der Informationsqualität und Effizienz gelangten, konnten diese Ergebnisse in unserer Studie nicht im gleichen Ausmaß bestätigt werden. Auffällig dabei ist, dass die Interaktion und Unterstützung bei O’Connell et al. [3] etwas schlechter bewertet wurde. Die Ergebnisse von O’Connell et al. [3] zur zeitaufwendigen Übergabe, zum Fehlen relevanter Informationen sowie zur Weitergabe irrelevanter Patienteninformationen stimmen hingegen weitgehend mit den Daten dieser Studie überein. Randell et al. [4] betonen, dass elektronische Pflegedokumentationssysteme die Art und Weise sowie die Bewertung der Informationsweitergabe zwischen Dienstschichten verändern können. Erklärungsbedürftig ist, dass es abweichend von Randell et al. [4] in der vorliegenden Studie keine statistisch bedeutsamen Effekte gab . Darüber hinaus ist das deskriptive Ergebnis des Items V25a (Verbesserung oder Verschlechterung der Übergabequalität nach Implementierung der elektronischen Dokumentation) zum Zeitpunkt t1 diskussionswürdig. Die Mehrheit der Befragten gab hier subjektiv an, dass eine Verschlechterung der Übergabequalität nach Implementierung der elektronischen Pflegedokumentation zustande kam. Die Gründe, warum die Befragten denken, dass sich die Qualität verschlechtert hat, wurden nicht erfragt.
Mögliche Ursachen für die fehlende statistische Signifikanz und die subjektive Einschätzung der Befragten können digitalisierungsimmanente Gründe sein. Die Umwandlung der papierbasierten Dokumentation in eine elektronische Pflegedokumentation kann Einfluss auf die Ergebnisse haben [1], [16]. Für die Zielstichprobe war die Einführung eine Innovation ohne Erfahrungswert, da die Pflegekräfte zuvor ausschließlich mit papierbasierter Dokumentation arbeiteten und kaum Erfahrung mit digitalen Systemen hatten. Da die Umstellung den gewohnten Arbeitsprozess grundlegend veränderte, könnten Unsicherheiten bei den Pflegekräften aufgetreten sein, die die Bewertung der Übergabequalität beeinflussten [12]. Alternativ ist denkbar, dass die Bedürfnisse von Pflegenden bei den Kommunikations- und Abstimmungsprozessen durch die elektronische Pflegedokumentation nicht im ausreichenden Maße unterstützt wurden. Kutney-Lee et al. verdeutlichen, dass ein Mehrwert durch elektronische Dokumentationssysteme nur unter Berücksichtigung des Kontextes erreicht werden kann [17]. Ferner können methodische Einschränkungen (siehe unten), wie eine mangelnde Validität des Fragebogens oder die unzureichende Berücksichtigung kontextueller Faktoren, negative Auswirkungen auf die Implementierung und Nutzung der elektronischen Pflegedokumentation im pflegerischen Alltag gehabt haben [17]. Eine technikkritische Analyse der Ergebnisse zeigt, dass die ausgebliebene Verbesserung möglicherweise auch auf technische Schwierigkeiten, unzureichende Schulungen oder andere Hindernisse zurückzuführen ist. Es ist zu hinterfragen, ob die eingesetzte Technologie selbst ineffektiv war oder ob die Implementierung besser gestaltet werden könnte. Eventuell war die elektronische Pflegedokumentation zum Zeitpunkt der zweiten Datenerhebung im Februar 2022 noch nicht vollständig in den Alltag integriert oder die Schulungen waren nicht umfassend genug, um den Pflegenden die erforderliche Sicherheit im Umgang mit dem neuen System zu vermitteln [12].
Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die erfolgreiche Implementierung elektronischer Dokumentationssysteme neben der technischen Ausführung auch von der Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse der Pflegenden und Pflegepraxis abhängt.
Limitationen
Die Aussagekraft der Studienergebnisse ist durch überlagernde Effekte, die Stichprobe, Antworttendenzen und den Fragebogen limitiert.
Die Ergebnisse wurden im Juli 2021 und Februar 2022 erhoben. Diese Zeitspanne war maßgeblich von der COVID-19-Pandemie und deren Auswirkungen geprägt. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Antworten insbesondere zur wahrgenommenen Interaktion und Unterstützung beeinflusst wurden. Es ist nicht sichergestellt, dass die Erhebungen die tatsächlichen Wahrnehmungen widerspiegeln. Bezugnehmend auf die nicht-systematische Rekrutierung der Studienteilnehmenden besteht die Möglichkeit, dass vermehrt Personen aus eigenem Interesse und Antrieb teilgenommen haben. Infolge des Prä-Post-Designs mit einer unverbundenen Stichprobe war es nicht möglich, die Veränderungen im Zeitablauf bei der Bewertung der Übergabequalität zu erfassen [18]. Die Häufigkeitsverteilungen der negativ gepolten Items F14, F15 und F16 verdeutlichen eine Akquieszenz. Diese inhaltsunabhängige Zustimmungstendenz legt nahe, dass bei der Beurteilung der Aussagen oftmals unabhängig vom Inhalt zugestimmt wurde. Mögliche Ursachen können die Gestaltung und Länge des Fragebogens, geringe zeitliche Ressourcen sowie die Unsicherheit der Befragten sein. Zudem beruhen alle Angaben der schriftlichen Befragung auf Selbsteinschätzungen, die möglicherweise durch eine soziale Erwünschtheit beeinflusst sein könnten. Kritisch muss betrachtet werden, dass die deutsche Fassung der Handover Evaluation Scale ohne weitere Änderungen nicht alle relevanten Dimensionen der Qualität des Übergabeprozesses durch Pflegende erfasst, wie dies von O’Connell et al. [3] vorgesehen war. Bezugnehmend auf eine mangelnde Konstruktvalidität sind bei der deutschen Fassung einige Anpassungen erforderlich.
Implikationen
Die Ergebnisse dieser Studie legen nahe, dass die Einführung der elektronischen Pflegedokumentation nicht zu einer statistisch signifikanten Verbesserung der Übergabequalität beiträgt. Es ist jedoch wichtig, den Unterschied zwischen statistischer Signifikanz und pflegerischer Bedeutsamkeit zu beachten. Auch wenn die statistische Signifikanz nicht erreicht wurde, könnte die elektronische Pflegedokumentation dennoch einen praktischen Nutzen für den Pflegealltag sowie positive Auswirkungen auf die Pflegequalität haben. Dies deutet darauf hin, dass weitere Untersuchungen sowie Optimierungen in der Implementierung und Nutzung digitaler Systeme erforderlich sind.
Zukünftige Forschung sollte darauf abzielen, überlagernde Effekte zu minimieren und eine systematische Rekrutierung sowie eine verbundene Stichprobe zu verwenden. Dies könnte die Vergleichbarkeit der Ergebnisse verbessern sowie Einblicke in die Auswirkungen der elektronischen Pflegedokumentation auf die Übergabequalität bieten. Wie bereits von O’Connell et al. [3] beschrieben, besteht ein klarer Optimierungsbedarf im pflegerischen Übergabeprozess. Die Entwicklung von Leitlinien zur Standardisierung und Verbesserung dieses Prozesses wäre vorteilhaft. Zur Erhöhung der effektiven Übergabezeit könnten die Reduktion irrelevanter Informationen und die Fokussierung auf wichtige Patienteninformationen hilfreich sein [15]. Dies könnte dazu beitragen, die Konsistenz und Zuverlässigkeit der Übergaben zu erhöhen. Die Einführung von Checklisten und standardisierten Protokollen, wie in verwandten Studien vorgeschlagen, könnte zur Erhöhung der Übergabequalität beitragen. Diese Instrumente könnten sicherstellen, dass alle relevanten Informationen während der Übergabe berücksichtigt werden. Ergänzend sollten regelmäßige Schulungen für Pflegende stattfinden, um die Nutzung der elektronischen Pflegedokumentation zu verbessern und eine Optimierung des Übergabeprozesses zu fördern. Überdies könnte die Integration des Clinical Adoption Meta-Modells [19] helfen, nicht nur technologische, sondern auch soziale und organisatorische Aspekte bei der Einführung neuer Technologien im Gesundheitswesen zu berücksichtigen und den Implementierungsprozess zu verbessern.
Fazit
Die Übergabe von Patienteninformationen stellt einen unerlässlichen Routineprozess im pflegerischen Setting dar. Die vorliegende Studie zeigt, dass entgegen literarischer Annahmen keine statistisch signifikante Verbesserung der Übergabequalität nach der Implementierung der elektronischen Pflegedokumentation festgestellt werden konnte. Krankenhäuser, die auf digitale Dokumentationssysteme zurückgreifen, sollten stets das Transformations- und Prozessmanagement im Blick behalten. Ferner kann die Optimierung und Standardisierung des Übergabeprozesses sowie die Integration des Clinical Adoption Meta-Modells vorteilhaft sein.
Anmerkungen
Ethikvotum
Interdisziplinäre Ethikkommission für Forschung der katholischen Stiftungshochschule München, Vorsitzende Prof. Dr. Constanze Giese, Datum der Ergebnisübermittlung: 02.07.2021.
Beiträge der Autor:innen
- SS: Konzeption und Durchführung der Studie, Datenerhebung, Datenanalyse, Interpretation, Verfassung des Manuskripts
- DF: Konzeption der Studie, Überarbeitung des Manuskripts
- BR: Konzeption der Studie, Überarbeitung des Manuskripts
Alle Autor:innen haben das Manuskript in der eingereichten Form freigegeben und übernehmen die Verantwortung für die wissenschaftliche Integrität der Arbeit.
Interessenkonflikte
Die Autor:innen erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.
Danksagung
Die Autor:innen möchten sich für die Bereitstellung der englischsprachigen Handover Evaluation Scale bei O’Connell et al. sowie für die Bereitstellung der unveröffentlichten, deutschen Übersetzung der Handover Evaluation Scale bedanken.
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